Angedacht im Oktober

 Herr, all mein Sehnen liegt offen vor dir, mein Seufzen war dir nicht verborgen. (Psalm 38,10)

 

Liebe Leser und Leserinnen unserer Kirchennachrichten,

ich muss an die Geschichte vom „verlorenen Sohn“ denken. Dieser junge Mann, der mit seinem Vater und seinem Bruder unter einem Dach lebte und dessen Sehnsucht doch offensichtlich unter diesem Dach kein Zuhause fand. Sie rumorte in seinem Herzen wie ein kleiner ungezähmter Vogel, der raus muss. Der fliegen muss, um die Weite der Welt mit den eigenen Flügeln auszumessen. Was soll man diesem kleinen Vogel erzählen, das seine Sehnsucht stillen könnte? Dass es zu Hause doch am schönsten ist? Dass der sicherste Platz zum Leben eben hier ist? Dass es undankbar und höchst verwerflich ist, wegzufliegen und alles zurückzulassen? Soll man ihm die Flügel stutzen oder ihn vorsichthalber einsperren, damit er bleibt?

Der Sohn jedenfalls ist aufgebrochen, die Sehnsucht im Herzen, zu seinem unbekannten Ziel, Hauptsache weg.

Die Reise allerdings war eine glatte Ernüchterung. Nein, er fand nicht, was er suchte. Immer, wenn er irgendwo ankam, breitete die Sehnsucht schon wieder ihre Flügel aus und flog weiter. Und irgendwann wünschte er sich nichts sehnlicher als endlich heimkehren zu dürfen. Heimzukehren an den guten Ort, der sein Zuhause gewesen war. Sonderbar, von weit weg sah dieses Zuhause auf einmal aus wie der schönste, erstrebenswerteste Ort auf dieser Erde. Wie hatte er das nicht sehen können? Und wiederum brach der kleine Vogel in seinem Herzen auf und flog los, diesmal nach Hause.

Ich stelle mir vor, wie die Nachbarn reagierten, als sie von seiner Rückkehr erfuhren: „Ha, jetzt kommt er wieder angekrochen. Das hätte er seinem Vater ersparen können. Wäre er doch gleich dageblieben!“

War diese Reise vermeidbar? Hätte er nicht einfach hübsch daheim bleiben können, wenn er es doch dort so gut hatte?

Aber hätte er denn dann wirklich das Gleiche erfahren, frage ich mich? Erst der Blick aus der Distanz ließ ihn doch erkennen. Erst der Verlust ließ ihn sehen, was er zuvor besessen hatte. Und nun kam er zurück, wohl mit leeren Händen und doch reich beschenkt –  mit einem Herzen voller Dankbarkeit.

Kann man diese Reise jetzt noch als sinn-los oder vergeblich bezeichnen,

überlegt Ihre Elisabeth Süßmitt